Valentina Vetturi. Alzheimer Café. Kunst im öffentlichen Raum
Zeitraum
10.10.2014 - 07.11.2014
Alois Alzheimer beschrieb im Jahr 1906 erstmals das Erscheinungsbild des fortschreitenden Untergangs von Nervenzellen. Die Folgen dieser hirnorganischen Erkrankung zeigen sich in Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, ebenso in Sprachstörungen und einem beeinträchtigten Urteilsvermögen, so dass eine zunehmende Veränderung der Persönlichkeit zu beobachten ist. Den normalen Alltag zu bewältigen, fällt ungemein schwieriger. Und für jeden Betroffenen haben diese plötzlichen Brüche oder langsamen Abschiede von dem, was man normal nennt und zu kennen glaubt, eine andere Ausprägung.
Die italienische Künstlerin Valentina Vetturi hat sich dem Geschehen dieser fundamentalen Veränderung, das in der heutigen Gesellschaft mehr denn je Thema ist, behutsam genähert. In ihrer aktuellen Arbeit, die im Rahmen der Kunst im öffentlichen Raum-Projekte der Kunsthalle Göppingen entstanden ist, nimmt sie den progressiven bis hin zum vollständigen Erinnerungsverlust in den Blick. Es geht ihr um die Wege des Sich Erinnerns, das bruchstückhaft sein kann, und um die Impulse, mit denen sich Gedanken oder Gefühle vergegenwärtigen lassen. Die Vorstellung, dass das Individuum durch Erinnerungen bestimmt ist und sich eine Lebensgeschichte chronologisch erzählen lässt, prägt im Allgemeinen unser Altersbild. Doch ist die Erwartung an das Zeitkontinuum trügerisch und kollidiert mit der Erfahrung, dass sich Ordnungen auflösen und das Gedächtnis den Halt nicht mehr findet. Valentina Vetturi hat deshalb ein künstlerisches Projekt realisiert, bei dem nicht die Krankheit im Vordergrund steht, sondern die Verbindungen und die Beziehungen zwischen Klängen und Erinnerungen.
Forschungen haben ergeben, dass man dem Gedächtnisverlust älterer Menschen, die unter Demenz oder Alzheimer leiden, mit Musik entgegenwirken kann. Der Mensch hat unbewusst eine Sensibilität für das Musikalische, an das sich eine starke und emotionale Reaktion knüpft. Aus diesem Grund ist es möglich, im Menschen Erinnerungen von vergangenen Ereignissen durch Klangbilder oder Musikgeräusche wieder zu erwecken.
Das Alzheimer Café I zeigt und macht eine Sammlung von Geräuschen hörbar und erlebbar. Die Künstlerin hat sich diese Klänge von älteren Menschen schenken lassen, die vielleicht Gedächtnisproblemen haben, sich aber an Geräusche oder Musik erinnern. Sie verbrachte dazu in der ersten Phase des Projekts mehrere Wochen in Göppingen und sammelte von Bürgern, die an Demenz leiden, musikalische Erinnerungen. Diese hat Valentina Vetturi in Italien bearbeitet und die jeweiligen Erinnerungen anonymisiert, um in der zweiten Phase die Klänge aus der Sammlung von Stimmen in eine Installation zu integrieren. Diese Installation ist ein betretbarer Raum, der für eine gewisse Zeit in seinem Inneren den imaginären Ort des Alzheimer Cafés hörbar macht.
Das Kunstprojekt, das im Garten der Stadtkirche Göppingen seinen temporären Ort gefunden hat, ist ein öffentlicher Raum, an dem den Stimmen und Klängen zugehört werden kann und an Stelle des Vergessens die fremden und die eigenen Erinnerungen treten – hörbar und fühlbar. Die pyramidale Konstruktion der Künstlerin gibt der Sammlung von Klängen einen sichtbaren Ort inmitten der Stadt. Betritt man die Installation, findet man im Innenraum im Boden zwei Klappen. Durch das Öffnen dieser Klappen ertönen die Erinnerungen; der Raum wandelt sich zu einem individuellen Erfahrungsraum, einem Innenraum, in dem das stets Verschwindende des Lebens und das der Klangspuren der Musik für den Moment erkennbar werden.