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Mémoire. Erinnern

Ort
Halle unten
Zeitraum
13.10.2013 - 08.12.2013

Die Ausstellung gibt einen profunden Einblick in das zeitgenössische Kunstschaffen
in Saint-Étienne. Sie zeigt Kunstwerke, in denen sich jene Debatte in der Kunst
spiegelt, in der es über das persönliche Erleben hinaus um die Rolle von Bildern im
kulturellen Gedächtnis geht. Neben den ikonographischen Motiven, dem
Erfahrungsschatz, vermittelt sie die Faszination, mit welchen künstlerischen Mitteln
Bilder eine überraschende, auf das Wesen des künstlerischen Bildes gerichtete
Gegenwart gewinnen können. Dem Erstaunen über diese Bilder über Bilder gehen
alle sechs Künstler auf ihre eigene Weise nach.
Bevor Jean-Luc Brignola malt, photographiert er entlang der ältesten Bahnstrecke
Frankreichs aus dem Zugfenster den Landstrich zwischen Lyon und Saint-Étienne.
Diese Blicke auf die Industrie- und Gleislandschaft, auf Siedlungen und Bruchstücke
der Natur, sind von der Dynamik der Bewegung geprägt. Alles ist in Veränderung,
und die Erfahrung von Zeit und Raum ist geprägt von der Unschärfe des schnellen
Sehens. Die Malerei reproduziert dabei keineswegs die Photographie. Sie erinnert
das Brüchige und ruft das Prozesshafte herauf, wobei sich das gemalte Bild aus
vielfachen Augenblicken zusammensetzt. Es ist sozusagen eine Konstruktion aus der
Sammlung des Archivs des Künstlers. Die Malerei reflektiert das innere Bild, sie
funktioniert wie das Gedächtnis, indem sie eine Wahrnehmungssequenz, die kein
Kalkül kennt, künstlerisch umsetzt und in eine Synthese aus vielen Aspekten des
subjektiv Gesehenen übersetzt.
Jean-Marc Cerino geht von anonymen Photographien aus, die er in Archiven findet.
In feiner, differenzierter Malerei kehren Motive in vergrößertem Format wieder.
Gemalt auf und unter Glas verwandelt der Schwarz-Weiß-Kontrast seiner Malerei
das historisch dokumentarische Bild in ein gegenwärtiges Kunstwerk. Zwar sind das
Motiv und der Ausschnitt der historischen Photographie unverändert wiedergegeben,
doch interpretiert Cerino diese mit seiner Aneignung, die eine nahezu informelle
künstlerische Intensität hat. Seine Malerei erschließt durch Schichtung und
Materialität das Bild aus der Geschichte unter der Prämisse der Sensibilität seines
Vorstellungsvermögens. Je nach Ansicht kann der Lichteinfall kippen, von hell zu
dunkel, von positiv zu negativ, was die Stimmung zum Thema macht. Cerinos Motive
sind teils kurios und haben plastische Besonderheit, wenn Trichter zum Hören von
Flugzeugen gezeigt werden oder Gegenständliches sich in Strukturen auflöst.
Olivier Dutel arbeitet im Medium des Filmes. Seine künstlerische Form ist die Abfolge
von Bildern, auch gefundenen, wie den Negativen aus den 1940er Jahren über die
Geislinger Steige. Er reiht diese in eine Sequenz von Stills, woraus sich das
Bildgeschehen eines imaginären Films ergibt. Erinnerung verläuft bei Dutel
diskontinuierlich und sprunghaft. Seine Installation setzt sich aus Dias und
Photokopien, die verschiedene Streckenabschnitte des Albaufstieg zeigen, sowie
diversen anderen Objekten zusammen. Sie vermittelt die Distanz des Gedächtnisses
gegenüber dem in der Bildfolge festgehaltenen Erleben: der historische Abstand
kontrastiert mit der Technik der Überblendung. Mit den Bildern wird somit das
Mysterium der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sichtbar. In dieser Konstellation
eröffnen sie in der Erinnerung, im Vorstellungsvermögen einen Assoziationsraum des
Dazwischen.
Thierry Gruas findet seine Erinnerung in Familienalben. Allerding ist sein Erinnern an
Kindheitsmomente überdeckt von den Klischees, deren stereotype Vereinfachung
aus den individuellen Erinnerungsmomenten ein austauschbares kollektives
Gedächtnis macht. Die Leinwände seiner Malerei geben Dinge und Menschen zu
sehen, die eher anonym und befremdlich wirken. Sie stehen für Mythen einer
bestimmten Zeit, wie die Pyramiden für den Urlaub in ferne Länder. Die
Ausdruckskraft und sinnliche Dynamik von Gruas‘ Malerei vermittelt eine emotionale
Stimmung, die den Bezug zur Gegenwärtigkeit der Motive herstellt, indem sie die
Betrachter in eine Erzählung hineinzieht. Gruas‘ künstlerischen Bilder zwingen darin
zu einem erneuten Finden von Fragmenten, auch der eigenen Identität. Sie geben
keine Antwort auf die Frage, inwieweit Bilder der Erinnerung zu einer Konstruktion
des Ich einen Beitrag leisten.
Éric Manigaud vermittelt mit seinen hier erstmals ausgestellten Bleistift- und
Graphitzeichnung gespenstische Ruinenlandschaften. Sie zeigen durch die Bomben
des Zweiten Weltkrieges zerstörte Städte, so Stuttgart im Jahr 1945. Zwar stellt die
Zeichnung präzise die Photographie der zerstörten Stadt dar. Doch ist es genau
diese Katastrophe der Zerstörung, die sich in seinen Bildern fortsetzt, in denen sich
scheinbar alles auflöst. Sie ist für die Wahrnehmung aus heutiger Sicht unerreichbar,
bei aller dokumentierten Erinnerung oder Versuchen der Rekonstruktion. Die
Perspektive des einzelnen Bildes, ebenso der historische Abstand zum Inhalt des
Bildes, bewirken eine Abstraktion. Zugleich resultiert aus der einnehmenden
Vergrößerung eine irritierende Unschärfe von objektiver Präzision. Was historische
Aufnahmen für die Erinnerung unmittelbar dokumentieren, verwandelt sich bei
Manigaud zu einer Projektionsfläche, zu einer abstrakten Stadtlandschaft jenseits
aller Dinglichkeit, in denen sich sogar die Linien im Graphitstaub pulverisieren. Die
Melancholie dieser Bilder über Bilder behält damit den rätselhaften Charakter.
Gaëlle Vicherd bezeichnet ihre Videobilder als Interfaces zwischen ihrer
Wahrnehmung und der Wirklichkeit, die sich dahinter vermuten lässt. Das
Unbestimmte, jenseits des Sichtbaren, steht in allen drei Filmen, die sie in der
Ausstellung zeigt, im Fokus. So treten die beiden Schauspielerinnen mit ihren
Textbüchern aus dem Dunkel des Studios kaum hervor. In Scènes (2009) geht es um
eine Aufführung, die sich nur in dem Dialog mit und über den Text andeutet. Die
Schwelle, den latenten Zustand einer Inszenierung, greift die Künstlerin auch in den
Tierbildern auf. In Orée (2013) greift Vicherd auf Dokumentationen und museale
Inszenierungen zurück, deren Ziel es ist, im Bild möglichst viel zu zeigen und zu
erklären, um diese Sichtbarkeit zu hinterfragen und den Blick für das nur
Angedeutete zu öffnen. Nicht der Bildgegenstand ist das Motiv, sondern das
Geheimnis der Bilder, der Raum hinter dem Sichtbaren, der sich dem Erinnern auch
als Konstruktion erschließt.
Die Ausstellung „Mémoire. Erinnern“ ist in Kooperation mit dem Musée d‘art moderne
de Saint-Étienne Métropole entstanden. Ihr ging ein intensiver Austausch mit den
Künstlern und Kuratoren vor Ort voraus. Im Rahmen der Regionspartnerschaft
danken wir besonders der großzügigen Unterstützung durch die Région Rhône-Alpes
als auch durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-
Württemberg.